Notenfrei, nicht leistungsfrei – Leistungsbeurteilung neu gedacht
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Dieser Blogbeitrag entstand in Zusammenarbeit mit Barbara Muntwyler, Absolventin des MAS-Lehrgangs Bildungsmanagement.
Warum es Zeit ist, zu handeln
Ziffernnoten gehören zu den vertrautesten Instrumenten schulischer Leistungsbeurteilung – und zu den problematischsten. Trotz ihrer scheinbaren Einfachheit sind sie weder objektiv, reliabel noch valide (1). Studien zeigen, dass sie von zahlreichen Verzerrungseffekten beeinflusst werden, etwa durch Geschlecht, Herkunft, sozioökonomischen Status oder sogar das Aussehen der Lernenden (2). Ziffernnoten fördern Wettbewerb statt Kooperation, hemmen intrinsische Motivation sowie nachhaltiges Lernen und geben wenig Aufschluss über tatsächliche Kompetenzentwicklungen (3). In einer Gesellschaft, die zunehmend Wert auf individualisierte Lernwege und die Förderung von 21st Century Skills legt, geraten sie zunehmend aus der Zeit.
Auch die Wirtschaft hat offenbar zunehmend Zweifel: Unternehmen setzen vermehrt auf eigene Eignungstests wie Multichecks, um ein Bild der Kompetenzen der Bewerbenden zu erhalten. In Medien, Hochschulen und unter Lehrpersonen wächst das Bewusstsein, dass neue Formen der Leistungsbeurteilung nötig sind. Doch wie viele Schulen sind tatsächlich auf diesem Weg? Wie könnte es gelingen, diese einzelnen Bemühungen zu vernetzen, sodass Schulen und Lehrpersonen nicht jeden Entwicklungsschritt von Grund auf neu durchlaufen müssen? Solche Fragen standen im Zentrum der MAS-Abschlussarbeit .
Ergebnisse der quantitativen Umfragen: Der Kanton im Wandel?
Ein wichtiges Element der Arbeit war eine Vollerhebung unter allen 179 deutschsprachigen Zyklus-3-Schulen im Kanton Bern. Sie erlaubt erstmals einen flächendeckenden Blick auf die Praxis der notenfreien Beurteilung. Die Resultate sind aufschlussreich:
- Ziffernnoten dominieren weiterhin: In einer Mehrzahl der Schulen sind Ziffernnoten nach wie vor Standard – oft kombiniert mit Prädikaten oder Punktesystemen.
- Wachsendes Interesse an Alternativen: Gut ein Drittel der Schulen denkt über neue Formen der Leistungsbeurteilung nach oder hat entsprechende Entwicklungsprozesse bereits initiiert. In weiteren 19% sind einzelne Klassenteams oder Lehrpersonen unterwegs. Weniger als die Hälfte aller Schulen schliesst demnach eine Entwicklung in Richtung Schule ohne Ziffernnoten unter dem Schuljahr aus. Das wachsende Interesse an Alternativen scheint sich nicht auf eine bestimmte Region oder Organisationsform der Schule zu beschränken. In der Stadt Bern sowie an Schulen, welche mit dem immer beliebter werdenden Modell 4 unterwegs sind, ist es aber besonders hoch (vgl. Abb. 1).
- Vielfalt der Formate: Wo alternative Ansätze erprobt werden, sind diese vielseitig. Dazu gehören Kompetenzraster, Checklisten, Portfolios, Verbalbeurteilungen sowie Lern- und Standortgespräche.
- Hemmnisse: Am häufigsten genannt wird die gesetzliche Vorgabe, dass zum Schuljahresende ein Zeugnis mit Ziffernnoten ausgestellt werden muss – ein Hindernis für viele Schulen, systematische Prozesse zu starten. Weitere Hemmnisse sind ein hoher Abstimmungsbedarf im Kollegium und die Sorge, wie Eltern oder Lehrbetriebe und weiterführende Schulen eine ziffernnotenfreie Beurteilung aufnehmen würden.
- Antreiber: Kollegien, welche den Schritt in Richtung eines ziffernnotenfreien Beurteilungskonzepts gewagt haben, beschreiben ihre Hauptmotivation in den pädagogischen Vorteilen der alternativen Formen: die stärkere Ausrichtung am individuellen Lernen, die Förderung der Motivation und das bessere Zusammenspiel mit den Grundsätzen des Lehrplans 21. Ein weiterer Anstoss scheint der Wunsch zu sein, im Schulteam neue pädagogische Haltungen gemeinsam zu entwickeln. Dies in der Gewissheit, dass Schulentwicklung auch immer das Lernen der Jugendlichen positiv beeinflusst.

Erkenntnisse aus der qualitativen Nachbefragung: Vorbilder berichten
Ergänzend zur Umfrage wurden vertiefende Interviews mit Schulleitungen durchgeführt, deren Schulen alternative Beurteilungskonzepte bereits im Alltag umsetzen. Die Erfahrungen dieser Schulen geben wertvolle Einblicke in Chancen und Herausforderungen der Schulentwicklung aber auch über konkrete Handlungstipps für Schulen, welche sich für diesen Schritt interessieren:
- Individuelle Konzepte statt Einheitssysteme: Die Konzepte setzen unterschiedliche Schwerpunkte – von fächerweise eingeführten Verbalbeurteilungen bis hin zu umfassenden schulweiten Portfolioansätzen. An den befragten Schulen wird vermehrt mit Kompetenzrastern gearbeitet. Dabei sollen in Lernzielkontrollen und Produkten die geprüften Kompetenzen einzeln erkennbar und mit Prädikaten bewertet werden. Die eingesetzten Abstufungen der Prädikate unterscheiden sich hingegen je nach Schule: Während einzelne mit feinen Abstufungen arbeiten (etwa «noch nicht erreicht», «erreicht», «gut erreicht», «sehr gut erreicht»), arbeiten andere mit einer dichotomen Skala (die Kompetenz ist «noch nicht erreicht» oder «erreicht»).
- Schrittweise Veränderung als Erfolgsrezept: Alle Schulleitenden betonen, dass eine klare Kommunikation gegenüber Eltern und Lernenden zentral bei der Einführung des neuen Konzepts war. Von nennenswerten Widerständen oder gar Rekursen kann keine Schule berichten. Die Schulleitenden empfehlen weiter, zu Beginn des Entwicklungsprozesses eine klare Haltung und Vision im Kollegium zu entwickeln und sich dieser in kleinen Schritten zu nähern.
- Wachsende Zufriedenheit: Lehrpersonen empfinden die neue Praxis als pädagogisch wertvoll: Sie rücke das Lernen stärker in den Mittelpunkt und führe zu mehr Zusammenarbeit unter den Lehrpersonen. Die Schulleitenden berichten zudem davon, dass Lernende vermehrt Eigenverantwortung und Selbstreflexion zeigen.
- Netzwerkpotenzial: Mehrere Schulleitungen wünschen sich einen überregionalen Austausch mit anderen Schulen – ein Bedürfnis, das derzeit kaum strukturell unterstützt wird.
Obwohl die Konzepte unterschiedlich sind, durchlaufen alle Schulen ähnliche Entwicklungsprozesse. Die Rolle der Schulleitung als Vorbild und Motor sowie der Einbezug des Kollegiums sind dabei zentral. Trotzdem ist klar: Ein Beurteilungskonzept muss zur Kultur einer Schule passen – Patentrezepte gibt es keine.
Was Lehrpersonen heute schon tun können
Auch ohne sofortigen Systemwechsel können Lehrpersonen im Unterricht wichtige Impulse setzen. Folgende Schritte sind (gemäss Befragung) kleine, aber wirksame Hebel für mehr Lernorientierung im Beurteilungsprozess:
- Anschlusshandlungen ermöglichen: Noten nicht als Abschluss, sondern als Ausgangspunkt für das weitere Lernen und das Nachdenken über das Lernen nutzen.
- Verbalfeedback stärken und Zeit für Reflexion schaffen: Rückmeldungen schriftlich oder mündlich geben, die nächsten Lernschritte aufzeigen. Regelmässige Standortgespräche fördern Selbstreflexion und Zielklarheit.
- Kompetenzraster nutzen: Lernen sichtbar machen und die Orientierung für Lernende verbessern.
Weiterbildung und Vernetzung - der Schlüssel zum Wandel
Sind Schulleitung und Kollegium einer Schule dazu bereit, ihr Beurteilungskonzept zu überarbeiten und neue Wege zu gehen, so müssen sie nicht alles selbst erfinden: Es gibt bereits zahlreiche Materialien, Weiterbildungsangebote und Schulen mit viel Erfahrung. Die Schulleitenden empfehlen dementsprechend:
- Verbündete suchen: Innerhalb des Kollegiums, über Schulstandorte hinweg oder in Fachgruppen.
- Fachwissen festigen und den Dialog stärken: Es gibt zahlreiche spannende Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich der Beurteilung. Diese sollen auch dazu anregen, sich im Kollegium regelmässig auszutauschen (beispielsweise gemeinsam Anschlusshandlungen planen, Kompetenzraster analysieren, Korrekturarbeiten vergleichen etc.).
- Pilotprojekte wagen: Auch kleine, begrenzte Tests alternativer Formate liefern wertvolle Erkenntnisse. Wichtig ist dabei, die Gesamtvision nicht aus den Augen zu verlieren, um grosse Richtungswechsel zu vermeiden.
Ein grosser Gewinn für den Austausch von Konzepten und Erfahrungen der Schulen wäre ein kantonales Netzwerk für Schulen mit Interesse an alternativen Beurteilungen. So könnten Synergien genutzt und erfolgreiche Konzepte sichtbar gemacht werden.
Fazit: Der Wandel beginnt an den Schulen
Die Debatte um Ziffernnoten ist keine rein akademische Debatte, sondern ein relevantes Thema der pädagogischen Praxis. Die Forschungsergebnisse aus der Literatur belegen: Die klassische Notengebung verfehlt oft ihr Ziel und steht modernen Bildungsansprüchen im Weg. Auf den raschen Wandel durch die Bildungspolitik zu setzen, ist dabei weder zielführend noch realistisch: Entscheidend ist, dass Schulen in einem ersten Schritt den Mut finden, ihren bereits bestehenden Spielraum zu nutzen, das Lernen ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen und Beurteilungskonzepte zu finden, welche diesen Weg unterstützen – durch intensivierten Austausch zwischen den Schulen, mit kleinen Veränderungen, mit der Bereitschaft, Neues zu erproben.
Dabei ist wichtig zu betonen: Der Verzicht auf Ziffernnoten ist keine Abkehr vom Leistungsgedanken. Im Gegenteil – alternative Beurteilungsformen ermöglichen eine differenziertere Erfassung von Leistungen, sie machen Lernpotenziale sichtbar und fordern zu individuellen nächsten Schritten auf. Wer Noten hinter sich lässt, wertet Leistung nicht ab, sondern schafft damit Raum für nachhaltiges Lernen und individuelle Entwicklung.
Die Ergebnisse der MAS-Abschlussarbeit zeigen: Der Wandel an den Schulen hat begonnen. Nun braucht es Austausch, Vernetzung und die Bereitschaft, gemeinsam weiterzugehen. Es ist also mit Spannung zu erwarten, wie die Beurteilungslandschaft im Kanton Bern in 10 Jahren aussehen wird.
Angebote zum Thema
Dieser Blogbeitrag basiert auf einer MAS-Abschlussarbeit von Barbara Muntwyler. Sie entstand im Rahmen des MAS-Lehrgangs Bildungsmanagement. Dieser Lehrgang wurde weiterentwickelt und startet mir neuem Konzept als „MAS Schulen leiten“ erstmals im August 2025.
Für am Thema Beurteilung interessierte Lehrpersonen bietet die PHBern ausserdem einen CAS-Lehrgang „kompetenzorientiert Burteilen“ an.
Fussnoten:
(1): Beutel et al., 2022; Brackett et al., 2013; Brügelmann, 2020; Ingenkamp 1995, Trautwein & Baeriswyl, 2007
(2): Cornwell et al., 2013; Ready & Wright, 2011; Triventi, 2020; Nennstiel & Gilgen, 2024
(3): Kronig, 2007; Hattie et al., 2013
Literatur:
- BEUTEL, S.-I., Bohl, T., Bräu, K., Feindt, A., Häcker, T. H., & Wischer, B. (2022). Leistung: Ermöglichen & beurteilen. Friedrich.
- BRACKETT, M. A., Floman, J. L., Ashton-James, C., Cherkasskiy, L., & Salovey, P. (2013). The Influence of Teacher Emotion on Grading Practices: A Preliminary Look at the Evaluation of Student Writing. Teachers and Teaching: Theory and Practice, 19(6), 634–646. https://doi.org/10.1080/13540602.2013.827453
- BRÜGELMANN, Hans. (2020). Sind Noten nützlich – und nötig? Ziffernzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes. Grundschulverband e.V. https://doi.org/10.25656/01:18828
- CORNWELL, C., Mustard, D. B., & Parys, J. V. (2013). Noncognitive Skills and the Gender Disparities in Test Scores and Teacher Assessments: Evidence from Primary School. Journal of Human Resources, 48(1), 236–264. https://doi.org/10.3368/jhr.48.1.236
- HATTIE, J., Wernke, S., & Zierer, K. (2024). Visible learning 2.0. Schneider Verlag Hohengehren.
- INGENKAMP, K. (1995). Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung: Texte und Untersuchungsberichte. In Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung Texte und Untersuchungsberichte (9., [unveränd.] Aufl.). Beltz.
- KRONIG, W. (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs: theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen (1. Auflage). Haupt Verlag.
- NENNSTIEL, R., & Gilgen, S. (2024). Does chubby can get lower grades than skinny Sophie? Using an intersectional approach to uncover grading bias in German secondary schools. PLOS ONE, 19(7), 1–23. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0305703
- READY, D. D., & Wright, D. L. (2011). Accuracy and Inaccuracy in Teachers’ Perceptions of Young Children’s Cognitive Abilities: The Role of Child Background and Classroom Context. American Educational Research Journal, 48(2), 335–360. https://doi.org/10.3102/0002831210374874
- TRAUTWEIN, U., & Baeriswyl, F. (2007). Wenn leistungsstarke Klassenkameraden ein Nachteil sind. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 21(2), 119–133. https://doi.org/10.1024/1010-0652.21.2.119
- TRIVENTI, M. (2020). Are Children of Immigrants Graded Less Generously by their Teachers than Natives, and Why? Evidence from Student Population Data in Italy. International Migration Review, 54(3), 765–795. https://doi.org/10.1177/0197918319878104
Barbara Muntwyler ist in der Stadt Bern als Co-Schulleiterin im Schulkreis Mattenhof-Weissenbühl tätig. Sie kann unter barbara.muntwyler@phbern.ch erreicht werden.