Diversität und Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext

Ist die Mehrsprachigkeit der Schweiz auch im schulischen Kontext eine Realität? Wie könnte die Mehrsprachigkeit in der Schule sichtbarer gemacht werden? Mehr dazu im folgenden Blogbeitrag.

Sprache als Diversitätskategorie

Die Schweiz ist offiziell viersprachig. Die Mehrsprachigkeit ist ein wichtiges Kultur- und Identitätsmerkmal der Schweiz. Dieses kulturelle Gut widerspiegelt sich im Schulzimmer.

Die Sprache gehört zu den relevanten sozialen Kategorien und stellt auch bei Kindern einen Teil der eigenen Identität dar. Soziale Kategorien sind Gruppen, denen Menschen aufgrund bestimmter Merkmale zugeordnet werden. Sprache ist jedoch nicht neutral, da sie unser Denken, Fühlen und Kommunikationsverhalten beeinflusst. Die sprachliche Diversität wird zwar als Realität beobachtet, jedoch spüren Kinder, ob ihre Mutter- bzw. Erstsprache gesellschaftliche Anerkennung findet, oder als «normabweichend» deklariert wird.

Was ist Neo-Linguizismus?

Der Begriff Linguizismus beschreibt, nach Laura Erler, (unbewusste) Vorurteile und Ablehnung gegenüber Menschen, die eine bestimmte Sprache oder mit dem Akzent dieser Sprache sprechen. Dazu gehört auch die Einordnung bestimmter Sprachen als «minderwertig» im Vergleich zu anderen – das Sprechen dieser Sprache wird z.B. mit geringer Bildung oder schlechten kognitiven Fähigkeiten assoziiert. Linguizismus kann konkrete Sprachverbote oder Sanktionen umfassen.

Karim Fereidooni weist auf die strukturelle Sprachhierarchie hin.
Bestimmte Sprachen (z.B. Deutsch, Englisch, Französisch) werden als Norm
(prestigeträchtige Sprachen) konstruiert. Dies führe dazu, dass
Sprecher*innen von anderen Sprachen „unbewusst“ weniger Kompetenz
zugesprochen oder dass ihnen sogar „mangelnde Integration“ vorgeworfen
wird. Diese und ähnliche (subtile) Benachteiligungen von Sprecher*innen bestimmter Sprachfärbungen nennt man Neo-Linguizismus.

Mehrsprachigkeit als Ressource nutzen

Viele Kinder wachsen heute mehrsprachig auf. Die Kompetenz, sich in mehr als einer Sprache auszudrücken, ist eine wertvolle persönliche, soziale, kulturelle und arbeitsbezogene Ressource. Linguistisch gesehen ist die Erstsprache das Fundament, auf dem eine Fremdsprache bzw. Unterrichtssprache aufbaut. Mehrere Studien, z.B. von Ingrid Gogolin (2013), weisen darauf hin, dass die Förderung der Erstsprache das Erlernen einer Zweitsprache begünstigt. Wenn Sprachstrukturen in der Erstsprache ausgebildet und gefestigt werden, können Schüler*innen auch in der neuen Sprache Strukturen besser erkennen und erlernen. Mehrere Sprachen zu sprechen, kann in jedem Unterricht hilfreich und lernfördernd sein.

Mehrsprachigkeit strukturell verankern, aber wie?

Die Frage, wie mehrsprachige Kinder ihre Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext praktizieren können, um ihre sprachlichen Fähigkeiten zu entfalten, bleibt eine strukturelle Herausforderung. Aus diesem Grund ist es wichtig, Ansätze zur strukturellen Förderung von Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext zu stärken, um alle Sprachen, im Sinne der Inklusion, als gleichwertig zu behandeln.

Durch eine engere Zusammenarbeit zwischen Heimatliche Sprache und Kultur (HSK)-Lehrpersonen und dem Regelunterricht könnte die Mehrsprachigkeit sichtbar gemacht werden. Eine Zusammenarbeit würde einerseits die transkulturellen Kompetenzen der Regelschullehrpersonen fördern, andererseits wäre sie auch den methodisch-didaktischen Kompetenzen der HSK-Lehrpersonen zuträglich. Fremdsprachige Kinder würden zudem von einer stärkeren Integration von HSK- und Regelunterricht profitieren, indem ihre Erstsprache eine höhere Wertschätzung erfährt und sie in ihrer persönlichen Integration unterstützt werden. Der HSK-Unterricht in den Landessprachen hätte somit mehr das Ziel der nationalen Kohäsion und Inklusion, und nicht lediglich einer Tradierung und Übermittlung von Lernzielen aus bestimmten Herkunftsländern. Die Förderung der Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext könnte somit aus linguistischen, erziehungswissenschaftlichen, rechtlichen und ökonomischen Gründen unterstützt werden.

HSK-Unterricht als ergänzendes Angebot zum Sprachunterricht in der Regelklasse

Die Schüler*innen besuchen den HSK-Unterricht in der Regel während zwei bis vier Lektionen pro Woche. Das Ziel des HSK-Unterrichts ist es, die in den Familien von mehrsprachig aufwachsenden Kindern gesprochenen Sprachen auch im schulischen Kontext zu fördern, um Sprachkompetenzen zu erreichen, die über einen alltäglichen mündlichen Sprachgebrauch hinausgehen.

Viele HSK-Lehrpersonen im Kanton Bern bringen sehr gute Qualifikationen für den Schulunterricht mit. Um sie aber mit den Gepflogenheiten der Berner Schule und dem Bildungssystem vertraut zu machen und sie in ihrer Rolle als Vermittler*innen zu unterstützen, können sie Weiterbildungen an der PHBern besuchen. In diesen Angeboten werden Grundlagen vermittelt und gleichzeitig Kontakte mit anderen Sprachgruppen geknüpft. Dies ist wichtig, da zwar die Sprachen, die unterrichtet werden, verschieden, die Rahmenbedingungen und die Herausforderungen aber für alle HSK-Lehrpersonen ähnlich sind. Die wenigen Lektionen pro Woche (in der Regel 2 ausserhalb der regulären Unterrichtszeit), die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler in Bezug auf ihre erstsprachlichen Kompetenzen wie auch auf das Alter und die spärliche Entlöhnung (und damit auch das geringe Prestige) sind für alle gleich.

Durch den neuen Rahmenlehrplan HSK wird versucht, die Gruppe der HSK-Lehrpersonen zu stärken und Verbindlichkeiten im Hinblick auf das Lernen im Regel- wie auch im HSK-Unterricht zu schaffen. Denn die Identität und der Erfolg der mehrsprachigen Schüler*innen ist eng verknüpft mit den Kompetenzen in der Erstsprache und soll gemäss Lehrplan 21 gefördert werden.

Foto einer HSK-Weiterbildungsgruppe (Brikela Andrea)

Quellen

Diehm, Isabell; Kuhn, Melanie; Machold, Claudia (2017). Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Erziehungsdirektion des Kantons Bern. Amt für Kindergarten. Volksschule und Beratung (2013). Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur, HSK. Ein Leitfaden zu Organisation und Zusammenarbeit. Bern: EDK.

Feller, Ruth; Pestoni, Amélie; Guggenbühl, Anatolij (2023). Förderung der Mehrsprachigkeit in der Schweiz: heute und morgen. Bericht zuhanden des Bundesamts für Kultur (BAK) und des Wissenschaftlichen Kompetenzzentrum für Mehrsprachigkeit (KFM). Luzern: BAK/KFM.

Gogolin Ingrid (2013). Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert. Frankfurt am Main: Waxmann.

Hild Petra; Scherrer Regina (2020). Marginalisierung engagierter und kompetenter Lehrer*innen. In: VPOD-Bildungspolitik: Magazin für Schule und Kindergarten. S. 25-28.

Pädagogische Hochschule FHNW (2022). Erfassung Schulischer Kompetenzen Neuzugezogener. Windisch: FHNW.

Zingg, Irène (2023). Positionspapier für einen integrierten Herkunftssprachenunterricht. Impulse für innovative Modelle sprachlicher Bildung. Babylonia Multilingual Journal of Language Education 1. S. 18-22.

Der Beitrag gibt die Sicht der Autorin bzw. des Autors wieder.
Tamasha Bühler ist Dozentin am Institut für Weiterbildung und Dienstleistungen der Pädagogischen Hochschule PHBern.
Carolina Luisio ist Dozentin am Institut für Weiterbildung und Dienstleistungen der Pädagogischen Hochschule PHBern.

Eine Antwort

  1. Das Bild der Blume trägt eine starke Symbolkraft: Unsere Bildungsinstitutionen haben noch viel Potenzial, in dieser Dimension der Diversität zu wachsen und sich zu entfalten.
    Grazia fitg et faleminderit,
    Irene Zingg

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  1. Das Bild der Blume trägt eine starke Symbolkraft: Unsere Bildungsinstitutionen haben noch viel Potenzial, in dieser Dimension der Diversität zu wachsen und sich zu entfalten.
    Grazia fitg et faleminderit,
    Irene Zingg

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