Vom Familientisch zum Kinderrestaurant? Schüler*innen schätzen die Selbstbestimmung beim Essen.

Wie kann das Mittagessen in Tagesschulen angenehm gestaltet werden? Ein Ansatz ist das «Kinderrestaurant», dass in diesem Blogbeitrag vorgestellt wird.

Heute ist die Mittagsbetreuung in der Tagesschule in den meisten Gemeinden nicht mehr wegzudenken. In urbanen Gebieten nehmen bis zu 40% der Schüler*innen am Mittagessen teil. Oft müssen in kurzer Zeit über 100 Kinder und Jugendliche verpflegt werden. Es ist laut, wuselig und die zwei Stunden über Mittag sind oft eine logistische Meisterleistung. Das zerrt auch an den Nerven von Mitarbeitenden und Schüler*innen.

Was tun?

Vielerorts wird eine Anpassung der Organisation des Mittagessens an die aktuellen Rahmenbedingungen notwendig. Auf Grund der räumlichen wie auch der personellen Herausforderungen braucht es neue und andere Organisationsformen für die Mittagsmodule. Deshalb hat die PHBern in den letzten zwei Jahren viele Tagesschulen zur Neuorganisation des Mittagessens beraten und Kurse für die Betreuungsteams durchgeführt. Denn der traditionelle «Familientisch» ist bereits ab 30 Kindern im begrenzten Raum nur noch schwer realisierbar. Oft sind die Betreuenden mit Hinweisen wie «hör auf», «setz dich hin», «Essen bleibt auf dem Teller», «sei ruhig» oder ähnlichen Aufsichtsaufgaben beschäftigt. Haben wir uns je gefragt, was die Kinder und die Mitarbeitenden davon halten? Welche Möglichkeiten bestehen, das Mittagessen im institutionellen Setting neu zu denken?

Was bedeutet das für Tagesschulen?

Es bedeutet, dass Tagesschulen das Mittagessen im institutionellen Setting offener gestalten könnten. Einige Tagesschulen im Kanton Bern beschäftigen sich mit der Idee des sogenannten «Kinderrestaurants». Statt festgelegter Essenszeiten könnten flexible Zeitfenster geschaffen werden. Viele Schüler*innen möchten selbst entscheiden, was, wann, mit wem und an welchem Tisch sie essen. Wir wissen, dass Kinder, die mehr Selbstbestimmung beim Essen haben, auch ein besseres Essverhalten zeigen und sich wohler fühlen. Im Rahmen eines offenen Mittagessens, wie es in den Kinderrestaurants praktiziert wird, lernen die Schüler*innen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und danach zu handeln – wichtige Fähigkeiten für ihr Leben ausserhalb der Schule. Gleichzeitig kann eine solche Situation auch die Mitarbeitenden entlasten, da sie so mehr Zeit für die Betreuungsarbeit erhalten. Es braucht weniger Massregelungen, denn die Schüler*innen übernehmen Verantwortung. Das Mittagsmodul wird ruhiger, gemütlicher und bedürfnisorientierter.

Das heisst aber auch, dass sich alle Mitarbeitenden der Tagesschule damit auseinandersetzen, welche Werte und Ideale sie mit dem gemeinsamen Essen verbinden. Diese werden idealerweise gemeinsam mit dem Team reflektiert. Zudem braucht es eine Auseinandersetzung mit der neuen Rolle als Betreuungsperson.

Wie setzt man das um?

Jede Tagesschule ist anders und alle haben unterschiedliche Ressourcen. Aber der „Selbstbestimmungswürfel“, der im Rahmen einer Zusammenarbeit der PHBern und der PH FHNW entwickelt wurde, kann helfen, die Mittagessensstruktur zu analysieren und zu verbessern. Er zeigt auf, wie Tagesschulen mehr Selbstbestimmung in ihr Konzept des Mittagessens integrieren können, ohne die sozialpädagogischen Ziele aus den Augen zu verlieren.

Das sogenannte «Kinderrestaurant» ist eine Möglichkeit, um auf verschiedenen Ebenen des Mittagessens mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen. Folgende zentralen Punkte sind dabei zu beachten:

  1.  Flexibilität beim Essenszeitpunkt: Kinder bevorzugen es, selbst zu entscheiden, wann sie essen möchten. Dies bedeutet, dass es nicht mehr einen festen Zeitpunkt gibt, zu dem alle Kinder gemeinsam essen müssen. Stattdessen können sie den Zeitpunkt ihres Essens individuell wählen.
  2.  Freie Wahl des Essensortes: Kinder sollten die Möglichkeit haben, den Ort ihres Essens selbst zu bestimmen. Dies kann bedeuten, dass sie zwischen verschiedenen Räumen oder Tischen wählen können, was ihnen mehr Komfort und die Möglichkeit gibt, mit Freunden zu essen.
  3.  Selbstbestimmung beim Essensinhalt: Kinder möchten auch bei der Auswahl ihrer Mahlzeit mitbestimmen. Dies kann in Form von Buffets umgesetzt werden oder durch eine Menüauswahl, bei der sie zwischen verschiedenen Gerichten wählen können.
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Vom Familientisch zum Kinderrestaurant: eine Audioreportage aus der Tagesschule Utzenstorf.

Bei der Umsetzung des Kinderrestaurants sind aber auch Herausforderungen zu beachten. Dazu gehören zum Beispiel altersspezifische Anpassungen: Jüngere Kinder benötigen mehr Struktur und Begleitung, während ältere Schüler*innen mehr Selbstbestimmung erfahren wollen. Es ist deshalb wichtig, die Angebote altersgerecht zu gestalten und den Kindern entsprechend ihrer Entwicklungsstufe mehr Verantwortung zu übertragen. Auch die knappen räumlichen Verhältnisse sind nicht immer mit einem Kinderrestaurant zu lösen. Deshalb bietet die PHBern ebenfalls Beratungen vor Ort an, damit auch dahingehend neue Ideen entwickelt werden können.

Ein offenes Mittagessen, das Kindern mehr Selbstbestimmung ermöglicht, kann den Alltag in der Tagesschule verändern. Es macht das Essen zu einer Angelegenheit, die auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet ist.

Keine der Tagesschulen, welche die PHBern dahingehend beraten hat, möchte das alte Modell zurück. Alle sprechen von mehr Ruhe und weniger Massregelung. Auch die Mitarbeitenden schätzen ihre neuen Rollen und Aufgaben. Sie erleben, dass sich ihre Arbeit verändert, da die Schüler*innen nebst dem Essen nun mehr Zeit für das individuelle Spiel und die Freizeitgestaltung zur Verfügung haben. So können die Angebote, die die Betreuenden den Schüler*innen bieten, auch genutzt werden.

Infobox

Der Beitrag gibt die Sicht der Autorin bzw. des Autors wieder.
Michelle Jutzi ist Dozentin und Beraterin am Institut für Weiterbildung und Dienstleistungen der Pädagogischen Hochschule PHBern.

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