Immersive Inseln bereichern den eigenen Unterricht

Mit etwas Mut und passendem Unterrichtsmaterial lassen sich einzelne Unterrichtssequenzen in einer Fremdsprache unterrichten.
Urs Weibel

«Bonjour la classe. Je vous présente le travail d’aujourd’hui!», begrüsst ein Lehrer seine 5. Klasse zu Beginn einer Gestaltungslektion. Die Schülerinnen und Schüler haben sich schon daran gewöhnt, dass sie in einer Fremdsprache begrüsst und die Aufträge so erteilt werden. Da der Lehrer vieles vorzeigt und beim Erklären der Aufträge Gesten und Anschauungsmaterial verwendet, verstehen sie rasch, was sie machen müssen. Nachfragen dürfen sie zudem jederzeit auf Deutsch. Die Antwort erhalten sie aber in der Fremdsprache.
Die Integration von immersiven Sequenzen – auch immersive Inseln genannt – in den Regelunterricht ermöglicht ein zusätzliches Übungsfeld für den Erwerb der ersten oder zweiten Fremdsprache. Unterricht in sogenannten nichtsprachlichen Fächern ist immer auch Sprachunterricht. Das Verstehen und Verfassen von Texten, der mündliche Austausch und das Aneignen von Fachbegriffen kann ohne Sprache nicht stattfinden. Normalerweise geschieht das auf Deutsch.
Diesen Ansatz nutzt der Immersionsunterricht, indem einzelne Unterrichtssequenzen in einer der Fremdsprachen unterrichtet werden. Das Konzept stützt sich auf die Mehrsprachigkeitsdidaktik und kann auf allen Unterrichtsstufen und Fachbereichen eingesetzt werden.

Rezeption vor Produktion

Einfacher ist das, wenn zu Beginn bei den Schülerinnen und Schülern die rezeptiven Kompetenzen mobilisiert werden. Dabei geht es um das Verstehen von mündlichen und schriftlichen Inhalten in Form von Anweisungen, Präsentationen und Erzählungen der Lehrperson oder aus Audio- oder Videobeiträgen und Texten. Dazu benötigen die Lernenden Verstehensstrategien, die auch im Fremdsprachenunterricht verwendet werden.

Verstehensstrategien für Schülerinnen und Schüler:

  • Lies den Titel! Was ist das Thema?
  • Schau die Bilder an! Diese helfen beim Verstehen.
  • Hör gut zu! Die Stimme sagt etwas über den Inhalt aus.
  • Markiere bekannte Zahlen, Namen und Wörter!
  • Vergleiche mit anderen Sprachen und markiere Parallelwörter.
  • Stell Fragen! Diese helfen beim Verstehen:
    Wer? Was? Wann? Wo? Wie?

Mit zunehmendem parallel stattfindendem Fremdsprachenunterricht können auch produktive Kompetenzen (sprechen, schreiben) erwartet werden. Hier ist es wichtig, dass die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern «Chunks» zur Verfügung stellt.

Rolle der Sprache

Fächer wie Bewegung und Sport, Gestalten, Musik aber auch einzelne NMG-Themen eignen sich bestens für immersive Inseln. Im Zentrum stehen die Kompetenzen des einzelnen Fachs. Die Fremdsprache dient als Informationsträger der zu vermittelnden Inhalte. Dabei agiert die Lehrperson äusserst sprachsensibel. Sie setzt bei Erklärungen bewusst Gestik, Mimik, die Tonlage ihrer Stimme ein, zeigt Arbeitsschritte vor und verwendet Anschauungsmaterial in Form von Bildern. Wenn die Anweisungen mit einem Anweisungsverb beginnen, wissen die Schülerinnen und Schüler eher, was zu tun ist. Das hilft auch bei schriftlichen Aufträgen.

Aufbau von Fachwortschatz

Wenn Unterrichtssequenzen in nichtsprachlichen Fächern auf Deutsch stattfinden, lernen die Schülerinnen und Schüler neben den neuen Inhalten auch neuen Fachwortschatz, den sie in ihrem Hirn abspeichern und mit bekannten Inhalten in Verbindung bringen. So entsteht ein grosses Netzwerk.
Finden Unterrichtssequenzen in einer Fremdsprache statt, erwerben die Schülerinnen und Schüler neuen Fachwortschatz in der Fremdsprache und auf Deutsch. Dabei helfen auch gezielte Sprachvergleiche:

Carnivore – carni (lat. «Fleisch) / vore (lat. «essen») <-> Fleischfresser
Omnivore – onmi (lat. «alle») / vore (lat. «essen») <-> Allesfresser
Herbivore – l’herbe. (das Gras) / vore (lat. «essen») <-> Grasfresser
Insectivore – l’insecte (das Insekt) / vore (lat. «essen») <-> Insektenfresser

Beurteilung

Am Ende einer immersiven Sequenz beurteilt die Lehrperson die Kompetenz des Fachs. Auch hier bleibt die Sprache Informationsträger, wobei gewährleistet werden muss, dass alle Schülerinnen und Schüler die Aufträge verstehen. Die Anweisungen können also in der Fremdsprache oder auf Deutsch verfasst sein und die Schülerinnen und Schüler dürfen in der Fremdsprache oder auf Deutsch antworten.

Von kantonalen Projekten…

Im Kanton Bern gibt es aktuell zweisprachige Schulen in der Stadt Biel und in der Stadt Bern.
Die Filière Bilingue Primarschule (FiBi) und Sekundarstufe I (FiBiS) sind öffentliche Schulen der Stadt Biel mit zweisprachigen Klassen. Der Unterricht findet zu 50% auf Deutsch und zu 50% auf Französisch statt. Jede Klasse besteht aus deutschsprachigen, französischsprachigen und anderssprachigen Kindern resp. Jugendlichen. Die Kinder lernen gemeinsam und werden von Anfang an mit beiden Sprachen und Kulturen konfrontiert. Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden in der FiBi wie in den anderen öffentlichen Schulen integriert.
In der Stadt Bern gibt es seit August 2019 mit den «Classes bilingues de la Ville de Berne» ein zweisprachiges Unterrichtsangebot in Französisch und Deutsch. Nach dem Start mit einer Kindergartenklasse in der Matte erfolgt ein schrittweiser Aufbau bis mindestens zum 6. Schuljahr der Primarstufe.
Auch der Kanton Wallis verfügt im französischsprachigen Kantonsteil über 4 Schulstandorte mit zweisprachigen Klassen.
Der Kanton Neuenburg führt seit 2011 das Projekt PRIMA mit dem Ziel, das Erlernen der deutschen Sprache zu fördern. Im Zuge dessen wurden Klassen eröffnet, in denen teilweise immersiver Frühunterricht mit einem Deutschanteil von 50% erteilt wird – zunächst für Schülerinnen und Schüler im Alter von 4 bis 5 Jahren. Schrittweise wurden weitere PRIMA-Klassen eröffnet mit dem Ziel ab 2028 an allen Schulstandorten PRIMA-Klassen mit einem Deutschanteil von 20% – 40% zu haben. Mittlerweile verfügt der Kanton über 69 PRIMA-Klassen.

… zum Projekt VABENE

Für zweisprachige Schulprojekte fehlt das passende Unterrichtsmaterial, denn Lehrmittel in der anderen Sprache sind zu schwierig.
Im Jahr 2020 haben sich die Kantone VAlais, BErn und NEuchâtel im Projekt «Matériel didactique romand pour l’enseignement de l’allemand par immersion partielle aux cycles 1 et 2» – (VABENE) mit dem Zweck zusammengeschlossen, auf der Basis des Plan d’édudes romands 32 immersive Unterrichtssequenzen aus allen nichtsprachlichen Fächern herzustellen. Diese werden von Redakteuren und Redakteurinnen der drei Kantone entwickelt und dabei von Didaktikern der HEP Valais, der HEP Bejune und der PHBern begleitet. Dozierende des Instituts für Weiterbildung und Dienstleitungen (IWD) der PHBern leiten das Projekt.
Das bis 2026 terminierte Projekt wird finanziell vom Bundesamt für Kultur unterstützt.
Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt durch die École de langue et de civilisation françaises (ECLF) der Uni Genf.

Aktuell arbeitet der Kanton Solothurn zusammen mit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) an einem Projekt für immersive Unterrichtssequenzen fürs Französisch.

Sprachkompetenzen und Mut

Inzwischen sind die beiden Lektionen der 5. Klasse fast zu Ende. «Rangez les affaires, lavez les pinceaux et nettoyez les tables, s’il vous plaît!» Alle wissen sofort, was sie tun müssen und machen sich an die Arbeit.

Immersive Inseln entwickeln

Voraussetzung für einen erfolgreichen Immersionsunterricht sind gute Sprachkompetenzen der Lehrperson und eine Portion Mut.

Mit dem Kursangebot «Mit immersiven Inseln den eigenen Fremdsprachenunterricht weiterentwickeln» können Lehrpersonen immersive Inseln im eigenen Unterricht selbst ausprobieren.

Der Beitrag gibt die Sicht der Autorin bzw. des Autors wieder.
Urs Weibel ist Dozent am Institut für Weiterbildung und Dienstleistungen der Pädagogischen Hochschule PHBern.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Artikel

Vom Familientisch zum Kinderrestaurant? Schüler*innen schätzen die Selbstbestimmung beim Essen.

Wie kann das Mittagessen in Tagesschulen angenehm gestaltet werden? Ein Ansatz ist das «Kinderrestaurant», das in diesem Blogbeitrag vorgestellt wird.

Diversität und Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext

Ist die Mehrsprachigkeit der Schweiz auch im schulischen Kontext eine Realität? Wie könnte die Mehrsprachigkeit in der Schule sichtbarer gemacht werden? Mehr dazu im folgenden Blogbeitrag.

Mediationskompetenz in der Sprachförderung: Eine neue alte Fähigkeit?

Die Erweiterung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GER) im Jahr 2018 hat die Mediation (Sprachmittlung) stärker in den Vordergrund gerückt und die Lehrpersonen vor neue Herausforderungen gestellt. Was ist aber Mediation und welche Kenntnisse und Fähigkeiten beinhaltet diese Kompetenz?

Ähnlicher Artikel

Vom Familientisch zum Kinderrestaurant? Schüler*innen schätzen die Selbstbestimmung beim Essen.

Wie kann das Mittagessen in Tagesschulen angenehm gestaltet werden? Ein Ansatz ist das «Kinderrestaurant», das in diesem Blogbeitrag vorgestellt wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert