Lehrplan 21 und die besondere Volksschule: Befähigung als übergeordnetes Bildungsziel

Die obligatorische Schule soll alle Lernenden auf ein eigenständiges und selbstverantwortliches Leben vorbereiten. Diesen Bildungsauftrag umschreibt der Lehrplan 21. Für Lernende mit einer komplexen Behinderung gestaltet sich die Umsetzung dieser Bildungsziele im vorgegebenen Rahmen oft schwierig. Lehrpersonen und Fachpersonen der Heilpädagogik stehen vor der herausfordernden Aufgabe, einer möglichen Eingrenzung der Lerninhalte entgegenzuwirken.
Sabine Williner

Unterrichtsplanung im Rahmen der obligatorischen Schule orientiert sich für alle Lernenden an den über-geordneten Bildungszielen des Lehrplans 21. Für Lernende mit komplexen Beeinträchtigungen kann dies bedeuten, dass komplexere Kompetenzstufen nicht bearbeitet werden und es zu einer Einengung der Bildungsziele kommt.

Bärli-Geschichten statt Welt der Römer

Lucien Le, Absolvent der Hochschulausbildung «écolsiv» am Institut Unterstrass in Zürich, hat diese Eingrenzung in seiner Schulzeit erfahren. Nach dem Besuch des Kindergartens an seinem Wohnort, erfolgte ein Wechsel in die Sonderschule. Während sich seine ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler mit komplexeren Themen beschäftigten, verlor er zunehmend die Lernmotivation. Im Buch «écolsiv – Schule inklusiv» (Labhart, Müller Bösch & Gubler 2021, 108) beschreibt er diese Zeit so: «Jetzt behandeln sie gerade das Thema Römer und wir haben immer noch diese blöden Bärli-Geschichten». Seine Mutter, Christina Le Kisdaroczi, beschreibt den Wechsel zu einer anderen Lehrperson als Schlüsselmoment. Individuelle Ressourcen und Interessen der Lernenden wurden erkannt und Möglichkeiten zur Bearbeitung komplexerer Lerninhalte geschaffen. Der Frust wich einer neu erwachten Lernfreude (ebd., 109).

"Jetzt behandeln sie gerade das Thema Römer und wir haben immer noch diese blöden Bärli-Geschichten."
Lucien Le in «écolsiv - Schule inklusiv" (Labhart, Müller Bösch & Gubler 2021)

Mehrperspektivität als Chance

Das Vorgehen dieser neuen Lehrperson beruht auf der Verknüpfung verschiedener Konzepte. Die logische Abfolge der Inhalte des Lehrplan 21 wurde nicht als starres Konstrukt verstanden. Angelehnt an das Konzept der «Zone der nächsten Entwicklung» (Wygotski, 1987) hat die Lehrperson überlegt, was die nächsten Entwicklungsschritte der Lernenden sind. Eine besondere Bedeutung erhielten bei der Unterrichtsgestaltung aber auch die individuellen Ressourcen und Interessen der Schülerinnen und Schüler. Bei der Bildungsplanung für Lernende der besonderen Volksschule kann diese Vorgehensweise durch die Einnahme einer Zukunftsperspektive erweitert werden. Fachpersonen überlegen hierbei, zu welchen Kompetenzen Lernende befähigt werden sollen, damit sie ihr Leben selbstbestimmt mitgestalten können. Die Verbindung dieser Sichtweisen hilft bei der Aufbereitung komplexer Kompetenzstufen des Lehrplans 21. Durch das Beantworten der Fragen WAS (welche Kompetenzen), WO (in welchem Kontext), und WOZU (hin zu welcher persönlichen Zukunftsperspektive) kann auch das Thema Römer von Lernenden der besonderen Volksschule erforscht werden.

So kann die Perspektivenvielfalt gelingen

Ein mögliches Vorgehen zeigt die gemeinsam von der PH Zürich und der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik entwickelte Broschüre «Umsetzung des Lehrplans 21 für Lernende mit komplexen Behinderungen in Sonder- und Regelschulen» (Bühler & Hollenweger, 2019) auf. Durch die systematische Erweiterung der Fachbereiche wird einer Einengung des Bildungsauftrages bei komplexer Behinderung vorgebeugt. Die Befähigung zu einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung stellt das übergeordnete Ziel bei der Bildungsplanung dar.

Das Vorgehen bei der Bildungsplanung und die Handhabung der dazugehörigen Dokumente werden in diversen Weiterbildungsangeboten der PHBern aufgenommen und vertieft.

Infobox

Der Beitrag gibt die Sicht der Autorin bzw. des Autors wieder.
Sabine Williner ist Dozentin am Institut für Heilpädagogik der Pädagogischen Hochschule PHBern.

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