Chance geben im schulischen Kontext – Was heisst das konkret im Unterricht?

Lehrpersonen stehen vor der zentralen Aufgabe, allen Kindern (trotz unterschiedlichster Voraussetzungen) die bestmögliche Bildung anzubieten.

Dieser Blogbeitrag wurde in Zusammenarbeit mit Rita Riesen, Dozentin für Kurse im Bereich Diversität und Chancengerechtigkeit, verfasst.

Die pädagogische Arbeit mit Schüler:innen, die unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse mitbringen, ist anspruchsvoll. Einerseits sollen die Lehrpersonen Kompetenzen und Werte vermitteln, andererseits die Leistungsfähigkeit der Lernenden beurteilen. Für Lehrpersonen besteht ein grosses Spannungsfeld zwischen Fördern und Selektionieren.

«Lehrkräftehandeln ist von Widersprüchen geprägt»
Rutter und Weitkämper, 2022

Chancengleichheit versus Chancengerechtigkeit

Chancengleichheit bedeutet, dass alle Menschen ungeachtet der sozialen/ethnischen Herkunft, des Geschlechts oder der Religion formal dieselben Möglichkeiten haben, Ziele zu erreichen. Chancengerechtigkeit bezieht ungleiche (Start-)Bedingungen explizit mit ein. Sie strebt nicht nur formale, sondern ebenso faire Bedingungen an, etwa durch Förderprogramme, Nachteilsausgleiche oder gezielte Unterstützung benachteiligter Gruppen (Stamm, 2025).

Interaction Institute for Social Change | Artist: Angus Maguire, interactioninstitute.org and madewithangus.com

Chancen geben: Handlungsmöglichkeiten für den eigenen Unterricht

Wie kann ich als Lehrperson chancengerechter handeln? Welchen Einfluss hat der eigene Habitus (unbewusstes verinnerlichtes System von Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen) auf die Interaktion mit den Lernenden? Dabei geht es um die professionelle Auseinandersetzung mit Lebenskontexten und Denkmustern, zu denen Lehrpersonen aufgrund der eigenen Sozialisierung oft (noch) keinen Zugang haben. Dies wird auch «Mittelschichtsorientierung der Schule» genannt (Greber, Sahli Lozano & Steiner, 2017).

«Lehrpersonen haben die einzigartige Möglichkeit (Handlungsmacht), Chancengerechtigkeit zu fördern»
Tamasha Bühler, PHBern

Chancengerechtigkeit ganz praktisch

Welche Schlüsselkompetenzen sind erforderlich, um Chancengerechtigkeit zu erreichen? Und wo bestehen Handlungsspielräume für Lehrpersonen und andere Akteur:innen der Schule? In den nächsten Abschnitten werden drei konkrete Ebenen beschrieben, in denen genau diese Handlungsspielräume aufgezeigt werden.

1. Ebene Haltung

Studienergebnisse zeigen, dass Lehrpersonen geringere Erwartungen an Schüler:innen haben, die aus weniger privilegierten Verhältnissen stammen und/oder Migrationshintergrund haben, als an andere Schüler:innen (Niederbacher & Neuenschwander, 2021). Lehrpersonen stellen häufig höhere Erwartungen an Lernende, die der eigenen ethnischen Gruppe angehören (Buholzer & Lötscher, 2015, 110). Dass Erwartungen der Lehrpersonen Effekte auf die Leistungen der Schüler:innen haben, ist seit längerem bekannt. Durch eine kritisch reflektierte Haltung und den Einbezug anderer Perspektiven kann solchen verzerrten Wahrnehmungen entgegengewirkt und der eigene Bias im besten Fall dekonstruiert werden. Das heisst, auf der ganz persönlichen Ebene der Haltung von Lehrpersonen befindet sich ein grosser Handlungsspielraum, der zu chancengerechterem Handeln im Berufsalltag führen kann.

2. Ebene Didaktik

Einen weiteren grossen Handlungsspielraum haben Lehrpersonen auf der Ebene der Unterrichtsgestaltung und der Beurteilung. Werden differenzierende Methoden zur Leistungsfeststellung im Unterricht eingesetzt, wie z.B. Portfolios, Lernjournale, Arbeitsprodukte und wird mit konkreten Beurteilungskriterien gearbeitet oder mit Kompetenzrastern, können die Leistungen der Schüler:innen breiter erfasst werden. Ressourcen werden so eher erkannt und können für die weitere Förderung genutzt werden (Buholzer & Lötscher, 2015, 113).

«Jeder ist ein Genie, aber wenn du einen Fisch danach bewertest, ob er auf einen Baum klettern kann, dann lebt er sein ganzes Leben im Glauben, er wäre dumm.»
Albert Einstein

Schullaufbahnentscheide wie z.B. der Übertritt in die Sekundarstufe I oder ins Gymnasium werden von Lehrpersonen mitbeeinflusst oder sogar bestimmt (Blossfeld, 2013, 87). Lehrpersonen schreiben Schüler:innen aus privilegierteren Sozialschichten eher eine schuladäquate Arbeitshaltung zu und gehen davon aus, dass ihre Eltern sie besser unterstützen können (Blossfeld, 2013, 87). Solche Annahmen führen häufig zu Bildungsentscheidungen, welche die weiteren Chancen eines Kindes oder Jugendlichen massgeblich beeinflussen. Hier dürften Lehrpersonen den Handlungsspielraum der prognostischen Beurteilung, nämlich die Einschätzung zukünftiger Leistungen und Entwicklungen (AHB, 23), noch viel mehr ausnutzen. Lehrpersonen müssen sich bewusst sein, dass sie durch Bildungsentscheidungen weitere Chancen im Bildungsverlauf ermöglichen oder verhindern und Privilegien zuteilen. So können sie den Kindern und Jugendlichen auch etwas zutrauen und zumuten, gerade wenn sie keine Eltern haben, die sie massgeblich unterstützen können.

3. Ebene Schulstrukturen

Im Lehrplan werden Lehrpersonen aufgefordert, Beurteilungen im Dialog vorzunehmen (AHB, 21). Das heisst, u.a. die Sichtweisen von Fachlehrpersonen und Heilpädagog:innen sollen miteinbezogen werden. Es gibt Schulen, die Klassenteamsitzungen bereits institutionalisiert haben, an denen auch die Leistungsbeurteilung der Schüler:innen im Team besprochen wird, um Wahrnehmungsverzerrungen entgegenzuwirken.

Um Benachteiligungen im Unterricht und in der Beurteilung zu minimieren, stehen den Lehrpersonen verschiedene pädagogische und bildungspolitische Massnahmen zur Verfügung. So zum Beispiel der Nachteilsausgleich und reduzierte individuelle Lernziele (riLz). Gleichzeitig zeigen Studienergebnisse, dass diese Massnahmen auch Effekte haben können, die ihr Ziel verfehlen: Lernende mit riLz werden von Lehrpersonen systematisch als leistungsschwächer eingeschätzt, auch bei gleichem IQ und gleichen Leistungen (Sahli Lozano, Wüthrich & Wicki 2022). Zudem sind Schüler:innen mit riLz vorwiegend solche aus benachteiligten Sozialschichten (Sahli Lozano et al. 2023) und Lernende mit Nachteilsausgleich aus privilegierteren Schichten (Sahli Lozano, Wüthrich & Wicki 2022). Schulen sind gefordert, solche Massnahmen nicht vorschnell sondern gut durchdacht einzusetzen und deren Wirkung kritisch zu hinterfragen. Hier empfiehlt es sich, die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteur:innen zu stärken.

Fünf Praktische Tipps für den Berufsalltag

Neben den oben beschriebenen Handlungsebenen gibt es auch noch ein paar praktische Tipps:

  • Beobachten statt bewerten
  • Genauer hinschauen, empathisch zuhören
  • Potenzial und Ressourcen erkennen
  • Hinterfragen der Informationen über die Lernenden
  • Vertrauensbasierte Beziehung aufbauen

Wer seine Aufmerksamkeit auf diese Punkte richtet, kann schon viel im Berufsalltag bewirken.

Chance geben? Chancengerechter Unterricht

Weiterbildungsmöglichkeiten für den eigenen schulischen Kontext​:

Literatur

  • Blossfeld, Hans-Peter (2013). Bildungsungleichheiten im Lebensverlauf – Herausforderungen für Politik und Forschung. In: Becker, Rolf; Bühler, Patrick & Bühler, Thomas (Hrsg.), Bildungsungleichheit und Gerechtigkeit. Wissenschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen (71-100). Bern: Haupt.
  • Bourdieu, Pierre (2019). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 23. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Buholzer, Alois & Lötscher, Hanni (2015). Chancengerechte Beurteilung im Unterricht. In: Hoti Haenni, Andrea (Hrsg.), Equity – Diskriminierung und Chancengerechtigkeit im Bildungswesen. Migrationshintergrund und soziale Herkunft im Fokus (109-115). Bern: EDK.
  • El-Mafaalani (2020). Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch
  • Erziehungsdirektion des Kantons Bern (2016). Lehrplan für die Volksschule des Kantons Bern. Broschüre Allgemeine Hinweise und Bestimmungen.
  • Greber, Lena; Sahli Lozano, Caroline & Steiner, Fabian (2017). Lehrpersoneneinschätzungen von Kindern mit integrativen schulischen Massnahmen. In: Empirische Pädagogik (3) (303-322).
  • Kamm, C., Maag Merki, K., Suter, F., und Schoch, J. (2023). Die Reduktion von Bildungsbenachteiligungen in der Volksschule. Theoretische Grundlagen und konkrete Handlungsmöglichkeiten. Allianz Chance+
  • Niederbacher, Edith & Neuenschwander, Markus P. (2021). Erklärung von Schulniveauerwartungen von Eltern und Lehrpersonen durch Herkunftsmerkmale und Überzeugungen sowie Folgen von Erwartungsdiskrepanzen für Leistungen. In: Empirische Pädagogik, Jg.35 (164-182).
  • Sahli Lozano, Caroline; Benz, Robin; Siefart, Fynn (2025). Vergabe und Auswirkungen von Reduzierten Individuellen Lernzielen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 2025 (2), S. 145-147.
  • Sahli Lozano, Caroline; Wüthrich; Sergej, Wicki, Matthias & Brandenberg, Kathrin (2023). Soziale Selektivität bei der Vergabe der integrativen schulischen Massnahmen reduzierte individuelle Lernziele, Nachteilsausgleich und integrative Förderung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (997-1027). Springer.
  • Sahli Lozano, Wüthrich Sergej, Wicki Matthias (2022). Chancen und Risiken von Lernzielreduktion und Nachteilausgleich. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik.
  • Stamm, Margrit (2024). Von unten nach oben. Arbeiterkinder und ihre Bildungsaufstiege an das Gymnasium. Weinheim: Belt
Der Beitrag gibt die Sicht der Autorin bzw. des Autors wieder.
Tamasha Bühler ist Dozentin am Institut für Weiterbildung und Dienstleistungen der Pädagogischen Hochschule PHBern.

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